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Babel

Autor
Cusanit, Kenah

Babel

Untertitel
Roman
Beschreibung

Nominiert für den Leipziger Buchpreis 2019 Sparte Belletristik

Ende des 19. Jahrhunderts konkurrierten die europäischen Großmächte nicht nur um Kolonien im Orient, in Vorderasien und in Afrika, sie wetteiferten ebenso um Ausgrabungsfelder und die darin zu erwartenden Schätze für ihre Museen. Der deutsche Architekt und Bauforscher Robert Koldewey gräbt im Auftrag der deutschen Orientgesellschaft im Zweistromland die Stadt Babylon aus.

Die Altorientalistin Kenah Cusanit hat mit Babel einen ebenso klugen wie komischen Roman über eine versunkene Welt geschrieben, dessen Themen bis weit in unser heutige Zeit reichen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Verlag, 2019
Seiten
272
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-446-26165-5
Preis
23,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Kenah Cusanit, geboren 1979, lebt in Berlin. Für ihre Essays und Gedichte wurde die Altorientalistin und Ethnologin bereits mehrfach ausgezeichnet. Bei Hanser erschien ihr Debütroman Babel (2019).

Zum Buch:

1913. Seit Jahren gräbt der deutsche Architekt, Bauforscher und Archäologe Robert Koldewey im Auftrag der Deutschen Orientgesellschaft im Zweistromland die Stadt Babel aus. Teile des Ischtartors, der Prachtallee und Fundamente des berühmten Turmes hat er mit seinen Mitarbeitern freigelegt.

Das Gerücht über einen Krieg zwischen den europäischen Mächten gewinnt an Substanz. Koldewey ahnt, dass auch Vorderasien, wo die Großmächte ihren Einfluss zunehmend ausbauen, davon nicht verschont bleiben wird, und treibt zur Eile an. Jetzt aber liegt er gerade fast bewegungsunfähig mit einer akuten Blinddarmentzündung in seinem Quartier. Seine Gedanken mäandern in einem unaufhörlichen Strom von Babylon nach Berlin, von den komplizierten Verhandlungen mit der Orientgesellschaft zu nicht minder verzwickten mit den größeren und kleinen lokalen Machthabern über ein paar gestohlene Pferde, von seinem Verständnis als Bauforscher und Ausgräber zu den Erwartungen des orientbegeisterten Kaisers, der aus seiner Privatschatulle einen Teil des Projektes finanziert und – wie alle in Berlin – möglichst bald spektakuläre Funde präsentiert haben will. Und dann taucht am Rande der Stadt auch noch Gertrude Bell auf …

In großen Teilen des Romans bewegt sich der Leser im Gedankenstrom Koldeweys und lernt darüber einen gleichermaßen universell gebildeten wie praktisch versierten, einen taktisch klugen wie beißend spottlustigen Menschen kennen, der zwischen den fast unentwirrbar verflochtenen Interessen der Orientgesellschaft, der Berliner Museen, des Kaisers, der großen und kleinen Potentaten vor Ort sowie seinen Mitarbeitern agiert. Den ideen- und mythengeschichtliche Themen genauso umtreiben wie die Frage, wie er 500 versandfertige Kisten mit farbigen Reliefziegeln auf Kamelrücken oder einem fast unschiffbaren Fluss heil nach Berlin bringen soll. Unterbrochen wird dieser Gedankenstrom von Bruchstücken seiner absurd komischen Korrespondenz mit der Generalverwaltung der Königlichen Museen in Berlin und seinen an unterschiedlichen Orten arbeitenden Assistenten.

Babel ist keine gradlinig erzählte Geschichte. Wie die unter Schutt und Sand verborgenen Tempel und Häuser, die mühsam freigelegt werden, ist auch der Text zersplittert und bruchstückhaft. Vieles wird mehrfach gedreht und gewendet, und stellenweise muss der Leser etwas Geduld aufbringen, bis sich die Zusammenhänge erschließen. Auf eine Frage nach ihrer Konstruktion des Romans sagte Kenah Cusanit in einem Interview im Deutschlandfunk Kultur abschließend: „ … ich denke, der Leser muss die Schaufel mit in die Hand nehmen.“

Tut man das, wird man reich belohnt. Das Buch behandelt eine schier überbordende Reihe von Themen: Wer darf wann und wo mit wessen Erlaubnis graben? Welche Interessen verbinden – und trennen – Auftraggeber und Ausführende? Welche Schicht des Entdeckten ist die „Endgültige“, die unser Bild von Ort und Geschehen bis heute prägt? Wer sind die „wahren Entdecker“ – die Ausgräber oder die Philologen? Und natürlich ganz aktuell: Wem gehört das Ausgegrabene? Das ist so spannend und gelehrsam wie oft unfassbar komisch, denn dieser Koldewey ist jemand, der nicht nur weiß, was er will, sondern sich auch nicht scheut, dies mehr oder weniger drastisch zu verkünden.

Wer aber glaubt, Cusanit erfinde hier zur Erheiterung des Lesers einen besonders skurrilen Wissenschaftler, der ziehe – falls noch aus den Jugendjahren vorhanden – die Bibel aller archäologiebegeisterten Jugendlichen aus dem Bücherregal: C. W. Cerams Götter, Gräber und Gelehrte. Dort findet sich folgendes Zitat: „Nicht etwa der Student, sondern der bereits weltberühmte sechsundfünfzige Professor scheut sich nicht, diesen Neujahrsgruß zu veröffentlichen:
Dunkel sind des Schicksals Wege,
ungewiß der Zukunft Stern,
eh ich mich zu Bette lege,
trink ich einen Kognak gern!”

Diesen Humor wird der reale Koldewey oft genug gebraucht haben, und Kenah Cusanit ist es zu danken, mit ihrem wunderbaren Roman diesen Ausgräber hinter den heute viel bekannteren Namen Schliemann oder Carter wieder ans Licht geholt zu haben.

Ruth Roebke, Bochum