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Sentimentale Reise

Autor
Schklowskij, Viktor

Sentimentale Reise

Untertitel
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Beschreibung

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse Sparte Übersetzung

Bekannt ist Schklowskij gemeinsam mit Boris Eichenbaum und Jurij Tynjanowals als Vorreiter des russischen Formalismus, des Strukturalismus und aller theoretischen Bewegungen der Literaturtheorie, die bis heute darauf aufbauen. Dass eben dieser Schklowskij ein begeisterter Automechaniker und -fahrer war, dass er begeistert mit Bomben wie mit Feuerwerk experimentierte, dass er sich duellierte und vor allem als Freiwilliger an den Fronten kämpfte, vergisst man vielleicht. Schklowskijs Sentimentale Reise gibt eine absolut subjektive, aber deswegen nicht weniger erhellende atmosphärische Schilderung von Erstem Weltkrieg, Oktoberrevolution und russischem Bürgerkrieg.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Die Andere Bibliothek, 2017
Seiten
485
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-8477-0390-7
Preis
42,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Autor
Viktor Schklowskij (1839-1984) war ein russischer und sowjetischer Kritiker, Schriftsteller, Film- und Literaturtheoretiker.

Übersetzerin
Olga Radetzkaja, geb. 1965, studierte Slawistik und Komparatistik. Sie ist Autorin, Übersetzerin und seit 2008 Redakteurin der Zeitschrift “Osteuropa”. Radetzkaja übersetzt vorwiegend aus dem Russischen. So übertrug sie u. a. Werke von Julij B. Margolin, Vladimir Sorokin, Irina Denežkina und Jurij M. Lotman ins Deutsche. Außerdem ist sie Co-Autorin des Dokumentarfilms Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen (2003).

Zum Buch:

Bekannt ist Schklowskij gemeinsam mit Boris Eichenbaum und Jurij Tynjanowals als Vorreiter des russischen Formalismus, des Strukturalismus und aller theoretischen Bewegungen der Literaturtheorie, die bis heute darauf aufbauen. Dass eben dieser Schklowskij ein begeisterter Automechaniker und -fahrer war, dass er begeistert mit Bomben wie mit Feuerwerk experimentierte, dass er sich duellierte und vor allem als Freiwilliger an den Fronten kämpfte, vergisst man vielleicht. Schklowskijs Sentimentale Reise gibt eine absolut subjektive, aber deswegen nicht weniger erhellende atmosphärische Schilderung von Erstem Weltkrieg, Oktoberrevolution und russischem Bürgerkrieg.

Seine Frau Ljusja stellte einmal fest, so schreibt Schklowskij, er würde, gestrandet auf einer einsamen Insel, nicht zum Robinson, sondern zum Affen. Und tatsächlich beschreibt er sich im Buch als Überlebender, der sich aus allen gefährlichen Situationen geschickt herauswinden kann und mit dem es das Schicksal gut meint: er kämpft im Ersten Weltkrieg, erlebt die Oktoberrevolution in Persien, wird schwer verwundet, baut auf der Seite der Sozialrevolutionäre gegen die Bolschewiki ein Panzerwagenbataillon auf, flieht vor den Bolschewiki in die Ukraine und kehrt dann, inzwischen als ihr Unterstützer, zurück nach Russland. Dort gelingt es ihm trotz seiner sozialrevolutionären Vergangenheit mit Hilfe Maxim Gorkijs, als Literaturtheoretiker Anerkennung zu finden. Gelegentlichen Verhaftungsversuchen entgeht er durch schlaue Voraussicht (er sieht von außen Licht in seinem Fenster und bleibt ein paar Tage bei Bekannten). Als er dann doch einmal von der Tscheka verhört wird, erzählt er sich frei, indem er die Tschekisten mit Geschichten über seine Kriegsjahre in Persien unterhält. Er meldet sich freiwillig an die Front und wird im südukrainischen Cherson schwer verwundet, als ihm bei seinem fröhlichen Herumexperimentieren („Sprengen macht Spaß!“) eine Bombe in der Hand explodiert. Zusammengeflickt überlebt er – wieder wie durch ein Wunder – und ist fortan nicht mehr tauglich für den Kriegsdienst. Aber Literaturtheorie betreiben, das kann er noch (im Augenblick der Explosion denkt er wehmütig an sein Buch Das Sujet als Stilphänomen, das er nun nicht beenden zu können fürchtet). 1922 muss er, nun erneut wegen seiner sozialrevolutionären Vergangenheit verfolgt, in die Berliner Emigration fliehen, kann aber bereits nach einem Jahr zurückkehren. Hier endet sein Bericht.

„Ich ging wie eine Nadel ohne Faden durch das Gewebe“, schreibt Schklowskij, und das wird sehr deutlich beim Lesen seines Textes: kein fester Erzählfaden hält hier die so unterschiedlichen Textteile, bestehend aus Anekdoten, technischen und historischen Informationen, persönlichen Reminiszenzen, Bewertungen oder sogar Manuskripte anderer Autoren, zusammen. Trotzdem entsteht aus dieser Mischung aus Tagebuch und Abenteuergeschichte eine Erzählung, die auch einen Tscheka-Beamten eingelullt hätte. Ironisch und witzig werden hier sehr genaue Beobachtungen erzählt, in wenigen Strichen eine gesellschaftliche Atmosphäre entworfen.

Nur wenn er vom Tod seiner drei Geschwister erzählt, wird die Trauer spürbar, die sich aber sofort im Trotz gegen die Unbill der Zeit äußert, in einem geschmeidigen Lebensweg mit dem Ziel, zu überleben und seine literaturtheoretischen Gedanken aufzuschreiben. Launig erzählt er vom Bürgerkrieg als Abenteuergeschichte: lakonisch werden Männerrunden geschildert, und häufig geht es begeistert um Autos und alles Motorisierte. Vor dem Hintergrund dieser Schilderungen mag man ihm fast glauben, wenn er schreibt, dass der Staat immer dümmer ist als der Einzelne. Nicht nur die Kämpfe mit einzelnen werden in der Darstellung Schklowskijs zur Slapstick-Nummer, auch seine harmlosen Scherze mit den Staatsvertretern kratzen an die Grenze zur Verharmlosung – oder ist das vielleicht die einzige Möglichkeit für ihn, über die Erlebnisse überhaupt schreiben zu können? Schließlich drohte ihm aufgrund seiner sozialrevolutionären Vergangenheit ständig Verhaftung und Schlimmeres.

Zuletzt wird das Manuskript eines Assyrers, Lasar Serwandow, abgedruckt – nur, so Schklowskij, mit den Korrekturen von Kasus und Interpunktion durch ihn selbst als Herausgeber. Darin werden die Kämpfe assyrischer Christen unter William Shedd in Persien geschildert, die Schklowskij mit Sympathie verfolgte. Im Anschluss schlägt der sonst launige Erzähler verhaltenere Töne an, wenn er überlegt, wie er das Buch nicht allzu traurig und nachdenklich enden lassen könnte, und Erlebnisse von sich weg schiebt, über die er wegen ihrer Schwere nicht schreiben will.

Die Ausgabe ist sorgfältig bearbeitet, mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat und zwei Nachwörtern versehen. Eine Freude.

Alena Heinritz, Graz