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Autor
Lessenich, Stephan; Scheffer, Thomas

Gesellschaften unter Handlungszwang

Untertitel
Existenzielle Probleme, Normalität und Kritik
Beschreibung

Alle sind überfordert! Natur und Gesellschaft, Politik und BürgerInnen. Überfordert ist aber auch die Soziologie. Die soll schließlich den unübersichtlichen Komplex von Industrie, Politik, einzelnen und kollektiven Stimmungslagen zum Klimawandel entschlüsseln und Lösungsvorschläge aufzeigen. Das ganze dann aber bitte mit Fundamentalkritik und möglichst leicht verständlich.

Wie das gehen soll, diskutiert der kleine Debattenband Gesellschaften unter Handlungszwang aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Bertz und Fischer, 2024
Format
Broschur
Seiten
128 Seiten
ISBN/EAN
978-3-86505-852-2
Preis
15,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Stephan Lessenich ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Gesellschaftstheorie und Sozialforschung und Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Thomas Scheffer ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Interpretative Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Zum Buch:

Alle sind überfordert! Natur und Gesellschaft, Politik und BürgerInnen. Überfordert ist aber auch die Soziologie. Die soll schließlich den unübersichtlichen Komplex von Industrie, Politik, einzelnen und kollektiven Stimmungslagen zum Klimawandel entschlüsseln und Lösungsvorschläge aufzeigen. Das ganze dann aber bitte mit Fundamentalkritik und möglichst leicht verständlich.

Wie das gehen soll, diskutiert der kleine Debattenband Gesellschaften unter Handlungszwang aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung. Thomas Scheffer schlägt eine umfangreiche Revision vor: Allen vier vorherrschenden Paradigmen der Sozialforschung sei heute eine gewissen Konformität gegenüber existentiellen Herausforderungen eingeschrieben. Vom Konstruktivismus bis zum historischen Materialismus sei man eher mit einer zynischen Distanzierung vom Geschehen beschäftigt als mit dessen Analyse. Den Ernst des Klimawandels wissenschaftlich zu begreifen, setze voraus, dass sich die soziologischen Theorien selbst etwas weniger ernst nehmen. Selbst KritikerInnen staatlicher Macht müssten doch einsehen, dass ohne Machtmittel wohl auch kein ökologischer Umbau zustande kommen wird. Und selbst fundamentalkritische Marxisten müssten eingestehen, dass der Nachweis, Staat und Kapital hätten ohnehin alle Fäden immer in der Hand, den Weg zu einer Transformation gerade nicht erhellt, sondern eher verdunkelt. „Nicht alles, was Not tut, liegt in weiter Ferne“, schreibt Scheffer mit Blick auf Ernst Blochs konkrete Utopien. Die Soziologie täte also gut daran, sich undogmatisch mit ihren eigenen Kritikmodellen neu aufzustellen und dabei vermehrt auch ökologische Forschungen und Kennzahlen zu berücksichtigen.

Stephan Lessenich hält dem entgegen, die Gesellschaft – und da sind dann die Soziologien eben gleich mit gemeint – befänden sich längst in einem rundum geschlossenen Gehäuse klimapolitischer Blindheit. Ökonomisch, habituell, symbolisch: Klimabilanzen und CO2-Rechner, internationale Abkommen und Nachhaltigkeit in der Werbung bilden „Varianten der Realitätsvermeidung“, aus denen kein offensichtlicher Weg mehr herausführt. Aus der Sicht von Scheffer scheint hier genau jene Fundamentalkritik durch, die sich im Besitz eines geheimen Wissens über die Sprengkraft gesellschaftlicher Widersprüche wägt und damit doch nur wieder einen Beitrag zur symbolischen Normalisierung der Krise darstellt.

Auch Henning Laux zweifelt in seinem Beitrag Lessenichs Darstellung an und hält die Idee, politische wie individuelle Strategien der Klimafolgenbewältigung seien primär als „selbstbetrügerische Täuschungsversuche“ zu erklären, für „eine empirisch unzutreffende Behauptung“. Laux bringt demgegenüber eine Soziologie der Rechtfertigungsordnungen ins Spiel, die sich erst einmal empirisch auf die Rechtfertigungsstrategien des aufkommenden Phänomens des Techno-Solutionismus einlassen will. Diese auf Lösungen aller Probleme in der Zukunft orientierten Debatten lassen sich nämlich, so Laux, schwer mit dem groben Besteck der Ideologie kritisieren, „weil etwas, das erst für die Zukunft versprochen wird, in der Gegenwart (noch) nicht als Täuschung oder Lüge entlarvt werden kann“.

Christine Hentschel schlägt der Soziologie in ihrem Beitrag nicht nur auf eine kritische Analyse der gesellschaftlichen „Schmerzunempfindlichkeit“ und „Gleichgültigkeitsproduktion“ (82f) im Anschluss an Günther Anders vor, sondern nimmt sie sogleich auch für die „Arbeit am Abgrund“ in die Pflicht: Nur dann, wenn sie sich auch denjenigen Gruppen widmet, die eben nicht gleichgültig bleiben, sondern sich trotz kaum vorhandener Machtressourcen ins überfordernde Handgemenge werfen, wie im Aktivismus, in der Sabotage oder in Überlebenskontexten, könne eine „Soziologie der Endzeit“ ihre eigene Überdistanz zum Objekt der Klimakrise reduzieren.

Florian Geissler, Karl Marx Buchhandlung, Frankfurt