Zum Buch:
Am Anfang steht die Ankündigung des baldigen Endes: Benno Romnik, Ingenieur und pensionierter Leiter des Brückenbauamtes in Hamburg, erfährt von seinem Arzt, dass er nur noch wenige Wochen zu Leben hat. Ausgestattet mit Medikamenten gegen die zu erwartenden Schmerzen und dem Angebot, per Computer die genaue „Restlebenszeit“ errechnen zu lassen, macht er sich auf den Weg zu seiner Wohnung und versucht, die schockierende Nachricht zu verarbeiten. Was anfangen mit der „Relezet“, wie es der Arzt genannt hat? Der erste Schritt ist ein scheinbar einfacher: Es ist Hochsommer in Hamburg, und er beschließt, an diesem Abend das zu tun, was er immer schon mal wollte: auf seinem Balkon in dem Haus neben einer Hochbrücke zu übernachten und die Sterne zu betrachten. Denn neben Brücken sind es vor allem die Sterne, die ihn sein Leben lang fasziniert haben.
Allerdings entwickelt sich diese Nacht anders als gedacht. Denn unter der Brücke ist eine Gruppe schwarzgekleideter und maskierter junger Leute dabei, die dort parkenden Luxusschlitten der gentrifizierten Nachbarschaft abzufackeln. Fasziniert beobachtet er die Flammen und die bald folgende Explosion und bekommt so mit, dass eine dabei offensichtlich verletzte junge Frau neben seiner Haustür Schutz vor der bald anrückenden Polizei sucht. Spontan holt er sie – und damit, wie sich herausstelle wird, eine ihm völlig unbekannte Welt – in seine Wohnung und letztlich in sein Leben.
Hollie Magenta, wie sich die junge Frau nennt, ist Mitglied der „Zertrümmerfrauen“, einer aus dem Chaos beim Hamburger Weltwirtschaftsgipfel entstandenen subversiven Gruppe, die nicht nur Autos abfackeln will, sondern viel größere Attentate plant. Der Unterschied zu dem pensionierten Ingenieur könnte nicht größer sein; allein die sprachliche Verständigung zwischen den beiden ist zunächst fast unmöglich. Und doch entwickelt sich in den Wochen, die sie aufgrund ihrer Knöchelverletzung bei ihm verbringen muss, trotz aller Konflikte und Unvereinbarkeiten eine Beziehung, ja Freundschaft. Hollies (nicht nur politische) Radikalität zwingt ihn, sich mit seinem Leben auf völlig neue Weise und vor allem ehrlich auseinanderzusetzen: mit seiner Unfähigkeit zur Nähe und all den dadurch verursachten Verletzungen, seiner gescheiterten Ehe, den Gründen für den Kontaktabbruch seiner Tochter, seinen Gefühlen für seine langjährige Sekretärin. Und da Freundschaft auch Verpflichtung heißt, begibt er sich mit Hollie auf eine gefährliche Reise, um ihre schlimmsten Pläne zu vereiteln …
Das Buch ist aus der Perspektive des Protagonisten geschrieben, und das heißt als sachlich-nüchterner Bericht eines prototypischen „Homo Faber“, der aber zugleich von einer zunächst eher ironisch-spöttischen und zunehmend selbstbewussteren Poesie durchzogen ist. Alle ungezählten Sterne ist weit mehr als ein Roman über Generationenkonflikte und die Auseinandersetzung mit dem absehbaren Lebensende; es ist ein packender, politischer, poetischer, manchmal ins Absurde und Groteske ausgreifender, höchst lesenswerter Roman über unsere Gegenwart und den Versuch, in all dem zeitgenössischen Chaos das zu tun, was mir müssen: Leben!
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.