Zum Buch:
Ein Tag und eine Nacht auf einem Frachtschiff mitten im Ozean. Die Kapitänin hat der Besatzung die Erlaubnis gegeben, die Maschinen zu stoppen und eine halbe Stunde im Meer zu baden. Das bleibt nicht ohne Folgen – für alle …
Selbstverständlich ist die Kapitänin an Bord des Containerschiffes geblieben. Die Männer schwimmen nackt in der Nähe des zur See gelassenen Rettungsbootes. Beide Füße sind ins Nichts hinab geglitten, der Körper hinterher. Niemand wird je von der Unterbrechung ihrer Fahrt erfahren. Nur der riesige Ozean umgibt sie: Freiheit, Verzückung, Verzauberung in den ersten Minuten. Dann steigen die Erinnerungen an alle im Meer ertrunkenen Seeleute auf, Schwindel macht sich breit, die Zeit steht still.
Der erste Offizier zählt 21 Mann zurück an Bord, nach seiner Erinnerung waren sie 20 – seltsam. Auch die Kapitänin ist irritiert. Wer ist der neue Blonde mit den durchsichtigen Augen? Dann kommt mysteriöser Nebel auf, der in keinem Wetterbericht erwähnt wird, undurchdringlich, keine Sicht, das Schiff ist isoliert. Die Maschine des Frachters arbeitet langsamer, dann wieder, unvermittelt, pumpt die Pumpe schneller. Und die Kapitänin, die von Kindheitstagen an Seefahrerin ist – ihr Vater schon war ein berühmter Mann auf See –, die Kapitänin spürt zum ersten Mal die Lebendigkeit dieses „Tier-Schiffes“ aus Metall. Es verselbstständigt sich. Ein Matrose stolpert in der Nacht über einen auf Deck liegenden Mann. Das Schiff, die Besatzung, die Kapitänin: Alle driften ab. Auch Angst kriecht über den Frachter.
Es ist eine ungewöhnliche Mischung aus Leichtigkeit und Intensität, die aus Mariette Navarros Novelle spricht. Vollkommene Entrückung, Meuterei, Aufhebung der Hierarchien, Seemannsgarn, Revolution des Geistes, Zusammenwachsen von Mannschaft und Schiff – alle diese Themen kommen in Anspielungen wie Wellen, bäumen sich auf, verebben. Am Ende bleibt das Gefühl der Unendlichkeit, auch der Unendlichkeit von Möglichkeiten. Eine wunderbare Lektüre.
Susanne Rikl, München