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Den Schmerz der Anderen begreifen

Autor
Wiedemann, Charlotte

Den Schmerz der Anderen begreifen

Untertitel
Holocaust und Weltgedächtnis. Ein Plädoyer für eine empathische Erinnerungskultur
Beschreibung

Debatten um Holocaust, Kolonialismus, Vergleichbarkeit von Massenverbrechen. Polarisierende Angriffe und ein unaufhörliches Kreisen um die deutsche, selbstbezügliche Achse – das erleben wir als aktuelle Gestalt dessen, was Erinnerungskultur genannt wird. Es gibt aber glückicherweise einen Strang der offenen und reflektierten Beschäftigung mit Differenz, Diversität, Empathie, der Suche nach Möglichkeiten der Bildung und Selbstreflexion. Diesem Strang gibt Charlotte Wiedemann mit ihrem neuen Buch Den Schmerz der Anderen begreifen einen lesefreundlichen und emotional ergreifenden Impuls. Vor allem bietet es Stoff für Gespräche, für Klärungen, auch für solidarische Auseinandersetzungen – genau das brauchen wir.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Propyläen Verlag, 2022
Seiten
288
Format
288
ISBN/EAN
978-3-549-10049-3
Preis
22,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Charlotte Wiedemann, geboren 1954, ist freie Auslandsreporterin, ihre Beiträge erschienen u.a. in Geo, Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Merian und Le Monde Diplomatique. Sie gehört dem Wissenschaftlichen Beirat des Zentrums Moderner Orient in Berlin an und hält Vorträge zu interkulturellen Themen und zur Erinnerungskultur. Sie ist Kolumnistin der taz und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt erschien Der lange Abschied von der weißen Dominanz (2019).

Zum Buch:

Debatten um Holocaust, Kolonialismus, Vergleichbarkeit von Massenverbrechen. Polarisierende Angriffe und ein unaufhörliches Kreisen um die deutsche, selbstbezügliche Achse – das erleben wir als aktuelle Gestalt dessen, was Erinnerungskultur genannt wird. Es gibt aber glückicherweise einen Strang der offenen und reflektierten Beschäftigung mit Differenz, Diversität, Empathie, der Suche nach Möglichkeiten der Bildung und Selbstreflexion. Diesem Strang gibt Charlotte Wiedemann mit ihrem neuen Buch Den Schmerz der Anderen begreifen einen lesefreundlichen und emotional ergreifenden Impuls. Vor allem bietet es Stoff für Gespräche, für Klärungen, auch für solidarische Auseinandersetzungen – genau das brauchen wir.

Schon vor bald 20 Jahren machte Micha Brumlik darauf aufmerksam, dass es die „Fernstenliebe“ ist, die als Orientierung für die Durchsetzung der Menschenrechte in der globalisierten oder – wie wir inzwischen sagen – „postkolonialen“ Welt gefordert ist. Sein Essay Fernstenliebe im Zeitalter der Extreme läuft auf die Überlegung hin, dass die notwendige Etablierung einer Pädagogik der Menschenrechte, einer „auf die Würde des Menschen ausgerichteten Bildung“ (S. 28) in der postkolonialen Welt von der Geschichte der Sklaverei aus entwickelt werden müsste. Die im Jahr 2000 etablierte „International Holocaust and Remembrance Alliance“ verfolgte das Ziel, die Werte der UN-Menschenrechtserklärung weltweit zu etablieren, indem der Mord an den europäischen Juden als historisches Lehrstück für den Verrat dieser Rechte etabliert wurde.

In ihrem neuen Buch berichtet Charlotte Wiedemann vor dem Hintergrund der Debatten um Identitäten, Restitution, Rassismus und Antisemitismus in der postkolonialen Welt von ihren eigenen Erfahrungen, die sie in unterschiedlichen Kontexten als Auslandskorrespondentin gemacht hat. Dass diese Berichte und Reflexionen subjektiv und oft auch biographisch ausdrücklich verortet sind, ist die eine Stärke des Textes. Er ist zugleich mit Bezügen aus der Forschung und den Debatten in der Theoriebildung zu Kolonialismus und Rassismus vor allem aus der internationalen Literatur unterlegt. Der Text ist keine Kampfschrift und auch kein Denktagebuch. Die Reflexion der eigenen Position gegenüber dem anderen Menschen und die Akzeptanz der Notwendigkeit, sich die Perspektive der Wahrnehmung einer anderen Erfahrung bewusst zu machen, sind die Grundlagen dieser Denkanleitung. Denn: „Mitgefühl ist nicht gerecht, es folgt nicht dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen“ (S. 11). Nur wenn man sich diese empörende Tatsache bewusst macht, kann man den Schmerz der Anderen, als fremd wahrgenommenen Menschen „begreifen und respektieren“ – und das bedeutet gerade nicht den Anspruch, den Schmerz der Anderen zu „empfinden“. Es geht nicht um Mitgefühl, sondern um die kritische Reflexion der eigenen Position in der Welt.

Das Buch behandelt historische und politische Katastrophen, unterschiedliche Konstellationen von staatlich organisierten Verbrechen. Die aktuelle Diskussion um die deutsche Erinnerungskultur wird nicht theoretisch aufgegriffen. Die Selbstreflexion bedeutet zunächst einen offenen Blick auf die eigene Familie – den Nazihintergrund (S. 269) einer wenige Jahre nach 1945 geborenen Deutschen. Dazu kommt im Bewusstsein dieses postnationalsozialistischen Deutschseins die Erfahrung eines Lebens mit Menschen, „die von anderswo auf uns blicken“ (S. 13). Auf diesen Grundlagen führt die Autorin die Lesenden durch eine Vielzahl von Beispielen: Die afrikanischen Kämpfer der Résistance, die vom französischen Staat rassistisch gedemütigt wurden. Die schwarzen GIs, die maßgeblich für die Befreiung Europas vom Faschismus kämpften und nach der Rückkehr in die USA dem staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus ausgesetzt waren. Die Nürnberger Prozesse gegen die Haupttäter des NS-Staates, während gleichzeitig die britischen Truppen in Malaysia und die niederländischen in Indonesien massive Kriegsverbrechen verüben. Die Kriege im Zusammenhang mit der Entkolonialisierung sind auf vielfältige Weise mit deutschen Akteur:innen verflochten: Ehemalige Wehrmachtssoldaten waren französische Legionäre in Indochina und Algerien. Nicht zu vergessen die Kontinuitäten zwischen dem Personal und den Formen der Gewalt in Vichy-Frankreich und der Französischen Republik nach 1946. Die Aufzählung müsste und könnte fortgeführt werden, die Berichte von Menschenrechtsverbrechen und Morden im globalen Süden während und nach dem Zweiten Weltkrieg macht immer wieder deutlich, wie eng und oft uninformiert unsere deutsche Sicht ist. Hier wird eine der Voraussetzungen für die unsägliche Debatte um die documenta 15 deutlich. Aber die Information über die Vielzahl an Verbrechen ist nicht die zentrale Erfahrung bei der Lektüre dieses Textes. Wir müssten das eigentlich alles schon wissen. Die Autorin selbst verweist auf die Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“, die seit 2009 dieses historische Wissen im deutschen Sprachraum vermittelt.

Die Erzählung über eine Fotografie von zwei Schwarzen Soldaten in einem europäischen Schützengraben im Schnee macht die befreiende Chance des Bewusstmachens von Differenz schlagartig klar. In einem Gehöft in Mali zeigen die Mitglieder einer Familie der Weißen Deutschen dieses Foto – vermutlich in den 1980er Jahren. Sie ist konsterniert, denn sie wusste nichts von afrikanischen Soldaten, die gegen das nationalsozialistische Deutschland gekämpft haben. Es ging den malischen Gastgebern nicht etwa darum, der Deutschen einen Vorwurf zu machen, sie an die deutsche Schuld zu erinnern. Das Bild „…bezeugte die Implikation meiner Gastgeber in ein Geschehen, von dem sie und ich ein Teil waren, wenngleich in einem weitläufigen Sinne … Mir das Bild zu zeigen, war mitnichten Anklage, vielmehr ein Zeichen der Verbundenheit.“ (S. 17)

Generationen nach den schrecklichen Ereignissen gibt es eine Möglichkeit, diese Verstrickung gemeinsam zu betrachten. Wiedemanns zentrale Frage lautet: „Welche Perspektive mochten diese beiden Männer gehabt haben, die mich auf dem Foto anblickten, ihre dunklen jungen Gesichter unterm Helm in irritierendem, bestürzendem Kontrast zur Eiseskälte, die sie umgab?“ (S. 16)
Zu diesem Bewusstmachen gehört die Wahrnehmung der Besonderheit des Blickes einer Deutschen mit Nazi-Hintergrund, die mit ukrainischen und polnischen Überlebenden und Nachgeborenen die Verbrechensorte des NS-Kriegs und des Holocaust in Osteuropa besucht. Sie erfährt von den Kämpfen um die Erinnerung und ihren Verstrickungen mit der aktuellen Politik, von der Konkurrenz um das Gedenken an die stalinistischen Verbrechen und an den Holocaust. In Kambodscha, in der Gedenkstätte Tuol Sleng scheint die deutsche Erinnerungskultur weit fort. Wiedemann beschreibt den Ort und die politischen Schwierigkeiten des Gedenkens in Kambodscha. Hier setzen die Reflexionen darüber ein, welche Opfer dem eigenen Erfahrungskontext nahe sind, welche für „uns“ bedeutsam sind.

Im Blick auf die Opfer der kolonialen Herrschaft, die sie an verschiedenen Beispielen betrachtet, fragt Wiedemann, wie es zu dem eklatanten „Empathiegefälle“ zwischen der Hinwendung zu den jüdischen Opfern des Holocaust auf der einen und den Opfern deutscher Kolonialverbrechen, beispielsweise in Tansania oder in Namibia, kommen kann. Diesen Mangel an Anteilnahme möchte sie verstehen. Sie konzentriert sich bei dieser Frage ausdrücklich auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft: „Und ich schließe mich selbst in diese Erforschung ein; auch mir stehen die Opfer des Holocaust näher.“ (S. 161) Diese Beobachtung wird konkret an der emotionalen Erfahrung bei Besuchen von Gedenkstätten an Orten von NS-Verbrechen in Osteuropa beschrieben. Die Verdrängung der Erinnerung an die Täterschaft in deutschen Familien, die ein diffuses Schuldgefühl hinterließ, beschreibt die Autorin als eine der Grundlagen für die Identifikation vieler postnationalsozialistischer Deutscher mit den jüdischen Opfern (S. 165). Diese Identifikation fehlt übrigens zumeist schon beim Blick auf die Sinti:zze und Rom:nja und erst recht beim Blick auf andere Opfer der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. „Gelten aus deutscher Perspektive womöglich nur die jüdischen Opfer als ein gleichwertiges Gegenüber?“ (S. 94) Charlotte Wiedemann packt im Lauf des Buches immer wieder neue Fragen – so auch diese – „in den Koffer der mitreisenden Fragen.“

Gottfried Kößler, Frankfurt