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Autor
Osang, Alexander

Die Leben der Elena Silber

Untertitel
Roman
Beschreibung

Alexander Osang schreibt den großen Roman seiner Familie! Was er hier erzählt, ist weder ein Einzelschicksal noch eine unerhörte Geschichte. Das gesamte 20. Jahrhundert ist eine Geschichte der großen Flüchtlingsströme. Aber wie Osang die Leben der Elena Silber erzählt, das ist tatsächlich großes Kino. Er erzählt in großen Abschnitten aus der Perspektive des Enkels Konstantin Stein aus dem Jahr 2017. Stein ist wie schon sein Vater Filmemacher und vergeblich auf der Suche nach Stoff für einen neuen Film. Schon sein Vater stand – noch zu DDR-Zeiten – hinter der Kamera, drehte Tierfilme, denen regelmäßig systemkritische Botschaften angedichtet wurden. Mittlerweile ist er im Pflegeheim, das Gedächtnis dement.
(Ausführliche Besprechung unten)

Verlag
S. Fischer Verlag, 2019
Format
Gebunden
Seiten
624 Seiten
ISBN/EAN
978-3-10-397423-2
Preis
24,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Alexander Osang wurde 1962 in Berlin geboren, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Alexander Osang schreibt heute für den Spiegel aus Tel Aviv, davor lebte er in Berlin und acht Jahre lang in New York. Sein erster Roman Die Nachrichten wurde verfilmt und mit zahlreichen Preisen, darunter dem Grimme-Preis, ausgezeichnet.

Zum Buch:

Jelena Krasnow ist noch keine drei Jahre alt, als man ihren Vater mitten im russischen Winter in der kleinsten Stadt Russlands pfählt. Wir schreiben das Jahr 1905, noch wartet Jelena an der Schwelle des Hauses auf die Heimkehr des Vaters, noch läuft sie mit dem leeren Korb in Händen, um Holz für den Ofen zu holen, als ein Freund auf den Hof gerannt kommt. Atemlos berichtet er von dem Blutbad, das der Mob angerichtet hat: Gepfählt ist nicht nur Viktor Krasnow, ermordet ist auch der Freund, erschossen auch der Arzt, der sie retten wollte – und Jelena Krasnow flieht zum ersten Mal in ihrem Leben. Wenn wir nach 600 Seiten das Buch von Alexander Osang wieder zuschlagen, wird Jelena noch etliche weitere Male geflohen sein und jedes Mal einen Teil ihres Namens verloren haben: Jelena, Elena, Lena – es sind Die Leben der Elena Silber, geborene Krasnow.

Was Alexander Osang hier erzählt, ist weder ein Einzelschicksal noch eine unerhörte Geschichte. Das gesamte 20. Jahrhundert ist eine Geschichte der großen Flüchtlingsströme. Aber wie Osang die Leben der Elena Silber erzählt, das ist tatsächlich großes Kino. Osang möchte nicht experimentell sein, er möchte nichts Außergewöhnliches präsentieren, die Realität selbst ist verworren und tragisch genug, die Frage nach Täter und Opfer nicht immer zu beantworten.

Als Jelena Mitte zwanzig ist, lernt sie den deutschen Ingenieur Robert Silber kennen, der vom stalinistischen Russland angeworben wurde, um die Netzfabrik auf Vordermann zu bringen. Sie verlieben sich, sie heiraten, sie gründen eine Familie. Vom kleinen Fluss Oka, an dem ihr Heimatdorf Gorbatow lag, zieht Jelena weiter an die Wolga, an die Moskwa und an die Newa, hier kommen drei ihrer fünf Mädchen auf die Welt, bevor Jelena – wir schreiben mittlerweile das Jahr 1936 – wieder fliehen muss, und der Fluss in der neuen Heimat heißt Spree. Statt im stalinistischen Russland lebt die Familie nun im faschistischen Deutschland, dem selbst wiederum Tausende entfliehen. Ein weiteres Mal und noch ein weiteres Mal und dann nochmals wird Jelena Silber umziehen und fliehen, von Sorau nach Pirna und schließlich nach Berlin.

Auf der letzten Flucht ist ihr Mann abhanden gekommen, getürmt oder ermordet oder in Kriegsgefangenschaft geraten, niemand weiß es. Von ihren fünf Töchtern hat Elena Silber zwei überlebt, die kleine Anna starb an Tuberkulose, die tapfere Vera brachte sich um. 1947 war sie es noch gewesen, die die Familie vor dem Tod bewahrte, als Jelena nicht mehr weiterwusste: Sie war mit ihren vier Töchtern im Flüchtlingsheim in Pirna untergekommen, das nur ein paar Jahre zuvor noch Tötungsanstalt für „unwertes Leben“ war. Im Keller lagerte noch das Gift, das nun die Odyssee ihrer Familie beenden sollte. Aber hatte Jelena nicht selbst ihr Kindermädchen in Sorau in den sicheren Tod geschickt, als sie sie nach dem Tod der kleinen Anna entließ? Im Wald lag das Frauenlager Christianstadt. Und war nicht der eigene Mann ein Nazi?

Alexander Osang erzählt in großen Abschnitten aus der Perspektive des Enkels Konstantin Stein aus dem Jahr 2017. Stein ist wie schon sein Vater Filmemacher und vergeblich auf der Suche nach Stoff für einen neuen Film. Schon sein Vater stand – noch zu DDR-Zeiten – hinter der Kamera, drehte Tierfilme, denen regelmäßig systemkritische Botschaften angedichtet wurden. Mittlerweile ist er im Pflegeheim, das Gedächtnis dement.

Es sind die großen Themen des 20. Jahrhunderts, die beinahe nebenbei aufgeworfen werden in diesem Roman, der eben deshalb so eindrucksvoll ist, weil er trotz allem großen Kino, das er liefert, eigentlich sehr bescheiden ist: Natürlich, weiß der Erzähler, bleiben die Leben der Elena Silber letztlich ungreifbar.

Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt