Zum Buch:
Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts hat die Psychoanalyse das kollektive Wissen um die Psychologie geprägt. Doch bereits seit mehreren Jahrzehnten steht dem ein anderes psychologisches Denken gegenüber, das seine Begriffe und Vorstellungen aus der naturwissenschaftlich orientierten kognitiven Neurowissenschaft bezieht, deren Grundlagen in die 60er Jahre zurückreichen. Fragen nach Sinn oder Grenzen des Menschen und die Auseinandersetzung mit den sozialen Voraussetzungen für die Psychopathologie werden ersetzt durch ein besseres Verständnis der kognitiven Entwicklung, des individuellen Lernens und der Selbstüberschreitung durch Optimierung.
Alain Ehrenberg vertritt die These, dass der von ihm beschriebene und sowohl innerwissenschaftlich als auch in den sozialen Wertvorstellungen beobachtbare Wandel motiviert durch eine immer breitere Akzeptanz der Werte der schottischen Moralphilosophie ist. Die individualistischen Ideale von Adam Smith und David Hume, die den Menschen als ein tätiges Wesen verstanden, das durch Arbeit und Tausch Wert schöpfen und sich selber zum Besseren verändern könne, deutet er als adäquate Reaktion auf die sozialen Herausforderungen der britischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Nicht nur, aber vor allem in den westlichen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts beobachtet Ehrenberg eine steigende Akzeptanz dieses Denkens. Damit einher geht ein zunehmendes Interesse an Forschungsergebnissen, die diese Vorstellungen vom Subjekt stützen und zum besseren Verständnis der Bedingungen gelingenden gesellschaftlichen Lebens unter diesen Voraussetzungen beitragen können.
Die Entstehung der kognitiven Neurowissenschaften und ihre Vorgeschichte analysiert Ehrenberg mit viel Aufmerksamkeit für die diese Entwicklungen prägenden Wertvorstellungen. In seiner Rekonstruktion des Kulturwandels, der sich beispielsweise an einer Verschiebung der Aufmerksamkeit vom subjektivem Leid hin zu individuellen Potentialen ausdrückt, stützt er sich auf wissenschaftliche Literatur, belletristische Texte und sich verändernde therapeutische Praktiken. Eine der entscheidenden Stärken von Ehrenbergs Buch liegt in der durchgängig erkenntnistheoretischen Reflexion seines eigenen Vorgehens, ganz unabhängig davon, welches Material er gerade erschließt. So vertritt er in seinem durchaus als Kritik intendierten Werk keine Position, die den Reduktionismusvorwurf gegenüber den kognitiven Neurowissenschaften so stark macht, dass ihre Fortschritte nicht mehr als solche zu erkennen wären. Er geht aber auch nicht so weit, das Wissen der kognitiven Neurowissenschaften für bare Münze zu nehmen und es unbedacht in seine eigene Argumentation zu übernehmen.
Damit gelingt ihm die Identifikation der Bruchpunkte dieses Forschungsparadigmas. Diese sieht er beispielsweise in der Annahme, Veränderungen von Hirnregionen erlaubten kausale Rückschlüsse auf Auswirkungen auf die Individuen. Zugleich vermag er die Dynamik dieses Forschungsfeldes nachzuvollziehen, ohne die soziologische Tatsache zu übergehen, dass dessen Ergebnisse die allgemein als wünschenswert angesehenen Vorstellungen von Individualität und Autonomie bestätigen und ihre Relevanz daher nicht allein durch die innerwissenschaftlichen Kriterien der Disziplin zu erklären ist. Durch diese komplexe Gratwanderung leistet Ehrenbergs Text einen eigenständigen, vielversprechenden und Maßstäbe setzenden Beitrag in der dringend notwendigen Kritik eines bestimmenden Forschungsparadigmas.
Tobias Heinze, Karl Marx Buchhandlung, Frankfurt