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Autor
Rudiš, Jaroslav

Winterbergs letzte Reise

Untertitel
Roman
Beschreibung

Jan Kraus ist Pfleger. Er begleitet sterbenskranke Menschen auf ihrer „Überfahrt ans andere Ufer“, wie er es nennt. Zur Routine wird ihm diese Arbeit nie. Mit großem Einfühlungsvermögen geht er auf die Besonderheiten der einzelnen „Matrosen“ ein, wie er die ihm anvertrauten Menschen bezeichnet. Diese emotionale Zugewandtheit hat den Preis, dass er selbst von jeder „Überfahrt“ berührt und verändert wird. Der Roman schildert seine „Überfahrt“ mit Wenzel Winterberg, die sowohl eine lange Eisenbahnreise als auch eine Reise der beiden Charaktere in Bereiche ihrer eigenen Vergangenheit bedeutet, die sie bislang in sich verborgen haben.

Nominiert für den Leipziger Buchpreis 2019 Sparte Belletristik
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Luchterhand Literaturverlag, 2019
Format
Gebunden
Seiten
544 Seiten
ISBN/EAN
978-3-630-87595-8
Preis
24,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. „Winterbergs letzte Reise“ ist der erste Roman, den er auf Deutsch geschrieben hat. 2012 erschien bei Voland & Quist seine Graphic Novel „Alois Nebel“ auf Deutsch, illustriert von Jaromír 99. 2012/13 hatte Jaroslav Rudiš die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. 2014 erhielt Jaroslav Rudiš für sein Werk den Usedomer Literaturpreis, 2018 wurde er mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet.

Zum Buch:

Jan Kraus ist Pfleger. Er begleitet sterbenskranke Menschen auf ihrer „Überfahrt ans andere Ufer“, wie er es nennt. Zur Routine wird ihm diese Arbeit nie. Mit großem Einfühlungsvermögen geht er auf die Besonderheiten der einzelnen „Matrosen“ ein, wie er die ihm anvertrauten Menschen bezeichnet. Diese emotionale Zugewandtheit hat den Preis, dass er selbst von jeder „Überfahrt“ berührt und verändert wird. Der Roman schildert seine „Überfahrt“ mit Wenzel Winterberg, die sowohl eine lange Eisenbahnreise als auch eine Reise der beiden Charaktere in Bereiche ihrer eigenen Vergangenheit bedeutet, die sie bislang in sich verborgen haben.

Mit Winterbergs letzte Reise setzt Jaroslav Rudiš nach dem gemeinsam mit Jaromír 99 gestalteten Comic Alois Nebel über einen Bahnwärter im Altvatergebirge seine literarische Beschäftigung mit der engen Verbindung von Eisenbahnleidenschaft und historischer Reflexion fort.

Winterberg kommt nach drei Schlaganfällen plötzlich und wider alle Prognosen zu Kräften, als er hört, dass Kraus im böhmischen Vimperk, früher Winterberg, aufgewachsen ist. Damit beginnt sein erster „historischer Anfall“, wie er es nennt, dem viele weitere folgen sollen. Winterberg, plötzlich scheinbar völlig genesen, überredet nun Kraus, mit ihm von Berlin aus durch das Gebiet der ehemaligen Donaumonarchie zu reisen. Er selbst, geboren 1918 als Sudetendeutscher in Reichenberg (Liberec), fühlt sich diesem ehemaligen Staatenverbund, der im Jahr seiner Geburt zerbrach, seit jeher eng verbunden. Winterberg besteht darauf, ausschließlich mit der Eisenbahn zu reisen – ist er doch ein leidenschaftlicher Bahnfreund und hält das Schienennetz für eine gesellschaftliche und kulturelle Leistung sondergleichen. Begleitet wird ihre Reise von einem Baedecker für Österreich-Ungarn aus dem Jahr 1913, aus dem Winterberg ausgiebig vorliest.

Jan Kraus ist hin- und hergerissen zwischen geduldiger Sympathie für den verschrobenen Winterberg und zunehmender Gereiztheit über dessen „historische Anfälle“, in denen er ohne Rücksicht auf seine Umwelt oft schwer verständlich, wenig zusammenhängend und in ständigen Wiederholungen über die Geschichte Österreich-Ungarns referiert und sich dabei jedes Mal über die Ignoranz seiner Mitmenschen ereifert, die „historisch nicht durchschauen“. Die Geschichte ist für Winterberg weit mehr als ein Gesprächsgegenstand, sie betrifft ihn selbst emotional, psychisch und physisch. „Die Schlacht bei Königgrätz“, das betont er immer wieder, „geht durch mein Herz“. Denn für Winterberg ist diese Schlacht zwischen Preußen, Österreich und Sachsen 1866 der Ausgangspunkt für die Entwicklungen, die das 20. Jahrhundert prägten und bis heute wirken.

Bald merkt Jan Kraus, dass seine Gereiztheit gegenüber Winterbergs „historischen Anfällen“ einen weitaus gewichtigeren Grund hat als allein die Penetranz der Monologe des Alten. Denn auf dieser Reise begegnet er auch seiner eigenen traumatischen Geschichte, sodass die Verbindung zwischen den Biografien der beiden Männer und der Geschichte der durchreisten Länder zuletzt untrennbar erscheint.

Beim Lesen geht es einem manchmal wie Jan Kraus, und man bewundert dessen Geduld angesichts von Winterbergs „historischen Anfällen“, eine Geduld, die man bei der Lektüre zeitweise kaum noch aufbringen will. Aber diese Reise lohnt sich. Die Melancholie und Monotonie der um sich selbst kreisenden Monologe Winterbergs hat Rudiš meisterhaft inszeniert. Dem Autor gelingt es nämlich, nicht nur ihren ermüdenden, sondern auch ihren poetischen Charakter herauszustellen, wenn er wiederkehrende Phrasen und Motive variiert und – in Kombination mit der Erzählerstimme von Jan Kraus und dem Baedecker als dritter Stimme – ein erstaunliches Gesamtbild komponiert. Eindrucksvoll sind die Schilderungen der Stationen – sei es Wien, Prag, Sadová (der Schauplatz der Schlacht von Königgrätz) oder Zagreb – und der kratzbürstigen und dann wieder liebevollen Beziehung zwischen Winterberg und Kraus. Und es ist gut möglich, dass man nach dieser Reise – wie Kraus und Winterberg – plötzlich ein bisschen mehr „durchschaut“.

Alena Heinritz, Bonn