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Kanalschwimmer

Autor
Draesner, Ulrike

Kanalschwimmer

Untertitel
Roman
Beschreibung

Maude und Charles sind schon lange verheiratet, Tochter Hazel erwachsen und entspannte Jahre eines harmonischen Ruhestands stehen vor der Tür. Als eines Tages ein alter und längst vergessener Brief am gemeinsamen Kühlschrank hängt, ein Brief, in dem Charles Maude vor langer Zeit versprochen hatte, immer für sie da zu sein. Was genau damals geschah und in welcher Situation dieser Brief und das Bekenntnis entstand, erfährt man erst nach und nach in Ulrike Draesners neuem Roman.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
mareverlag, 2019
Seiten
176
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-86648-288-3
Preis
20,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Joachim-Ringelnatz-Preis und dem Nicolas-Born-Literaturpreis; zwei ihrer insgesamt fünf Romane waren für den Deutschen Buchpreis nominiert. Draesner hatte verschiedene Poetikdozenturen inne, war Writer in Residence an der Universität Oxford und unterrichtet seit 2018 als Professorin für literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bei mare erschienen: Mein Hiddensee (2015).

Zum Buch:

Maude und Charles sind schon lange verheiratet, Tochter Hazel erwachsen und entspannte Jahre eines harmonischen Ruhestands stehen vor der Tür. Als eines Tages ein alter und längst vergessener Brief am gemeinsamen Kühlschrank hängt, ein Brief, in dem Charles Maude vor langer Zeit versprochen hatte, immer für sie da zu sein. Was genau damals geschah und in welcher Situation dieser Brief und das Bekenntnis entstand, erfährt man erst nach und nach in Ulrike Draesners neuem Roman.

Im Hier und Jetzt geht es bei Charles ums Überleben im kalten Wasser des Ärmelkanals und darum, von den Begleitern nicht aus dem Wasser gezogen zu werden, weil die Erschöpfung größer als das Durchhaltevermögen ist. Den Kanal zu durchschwimmen ist Charles’ lang gehegter Traum, intensiv vorbereiteter Plan, jetzt jedoch vor allem eine Flucht vor der Gegenwart, eine Flucht vor Maudes Vorschlag, eine Flucht auch vor der gemeinsamen, lang zurückliegenden Geschichte, als sie noch zu viert waren: „Abbie und Maude, Silas und Charles. Zwei Schwestern und zwei Brüder, fast“. Mit jedem geschwommenen Meter, mit jedem weiteren Zug durchs kalte Wasser, kehrt Charles in die Erinnerungen zurück, stellt sich seinen Dämonen, die ihn genauso hartnäckig wie das vorgeschriebene Begleitboot flankieren.

Charles umkreist gedanklich die potentiellen Bruchstellen in ihrem gemeinsamen Leben, gräbt in Gedanken nach dem Grund, der Maude dazu treibt, sich aus ihrer innigen Vertrautheit herauszubewegen, aufs Spiel zu setzen, was so vollkommen erschien auf dem Weg ins Älterwerden. In den flirrenden Sommern damals schien alles offen und auch nicht ganz so wichtig, wer zu wem gehörte, Maude zu Silas, Abbie zu Charles? Auf Sylt hatten sie alles geteilt. „Sylt war flüssig gewesen von Wasser, Sonne und Wein. Unscharf die Grenzen zwischen Armen, Beinen, Brüsten (…).“ Und dann war etwas Schlimmes passiert, das aus den vieren drei machte und zwei danach beschlossen, zusammenzubleiben, ein Leben oder doch zumindest ein halbes Leben lang. Kann Maude denn ernst meinen, dass jetzt aus zwei wieder drei werden sollen, in ihrem schönen Haus, jetzt, wo sie alt werden, die Türen der Zweisamkeit für den alten Freund öffnen und eine Dreisamkeit leben?

Draesners Sprache bewegt sich in manchen Passagen fließend zwischen Prosa und Lyrik. Sie beschreibt die Durchquerung des Ärmelkanals als einzigen Weg eines verzweifelten Menschen durch die eigene Erinnerung, die Angst, Zweifel und Ablehnung. „Suchte er den Kanal als große physiologische Tröstung?“ Neben den Kämpfen gegen Erschöpfung und Unterkühlung, die Charles durchlebt, erfahren wir einiges über die Herausforderung, die diese Schwimmer auf sich nehmen: dass es einen regelrechten Tourismus für Kanalschwimmer gibt, von Strömungen, die vor lauter Müll für einen Menschen kaum zu überwinden sind, von wechselnden Gezeiten, die Freund und Feind sein können, von gefühllosen Gliedmaßen und halluzinatorischen Zuständen nach Stunden im Wasser. Es scheint ein fast unmenschliches Wagnis zu sein, das Charles in diesem Roman und fast täglich Menschen aus unterschiedlichsten persönlichen Beweggründen im Ärmelkanal auf sich nehmen.

Kanalschwimmer ist ein feines, aus Sprache und Bildern gewebtes Kleinod. Es geht um Erinnerungen und blinde Flecken, weil jeder irgendwann mal Fehler gemacht hat. Freundschaft, Schuld, Veränderung und das Aufgeben vermeintlicher Gewissheiten sind Eckpfeiler dieser besonderen Geschichte. Ulrike Draesners neuer Roman ist unbedingt lesenswert.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt