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HERKUNFT

Autor
Stanišić, Saša

HERKUNFT

Beschreibung

Gewinner des Deutschen Buchpreises 2019

Das ist Schicksal: Der Mensch wird geboren, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, von ganz bestimmte Eltern. Und auch wenn uns, in unserer angeblich offenen Gesellschaft, das Spiel mit der Identität möglich ist – diesen Fragen entgeht man nicht: nach der Nationalität, der Stadt, den Eltern, der Religion – nach der Herkunft. Für Saša Stanišić, Sohn einer Bosniakin und eines Serben, aufgewachsen im ehemaligen Jugoslawien und mit 14 Jahren mit den Eltern vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet, ist die Frage nach der Herkunft zu einer zentralen Frage in seinem Leben geworden – unabhängig davon, ob er das selbst so wollte oder nicht. Sein neues Buch erzählt von seinem Leben in Višegrad und Heidelberg, erzählt von seinen Eltern, den Großeltern, von Schlangen und Drachen. Vom Leben im heutigen Bosnien, vom Fremdsein in Deutschland. Herkunft ist ein rasanter Roman, komisch, wütend, traurig und zutiefst human in seiner Ablehnung jeder Festlegung eines Menschen auf eine Nationalität oder Abstammung.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Luchterhand Literturverlag, 2019
Seiten
368
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-630-87473-9
Preis
22,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Sein Debütroman »Wie der Soldat das Grammofon repariert« wurde in 31 Sprachen übersetzt. Mit »Vor dem Fest« gelang Stanišić erneut ein großer Wurf; der Roman war ein SPIEGEL-Bestseller und ist mit dem renommierten Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Für den Erzählungsband »Fallensteller« erhielt er den Rheingau Literatur Preis sowie den Schubart-Literaturpreis. Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg.

Zum Buch:

„Wo kommst Du her?“ Wie oft hat man selbst diese Frage gestellt und wie oft gestellt bekommen? Oft auf Reisen und zumeist bedeutete sie Neugier auf Neues, Unbekanntes. Die Frage nach dem „Woher“, nach der Herkunft eines Menschen – ob geographisch oder ethnisch – ist aber auch immer die Frage nach dem „Anderen“. Sie öffnet den Raum der Vorurteile und produziert als Resultat oft nur eines: Ausgrenzung. Nirgendwo ist diese Frage so brisant wie in Regionen, in denen es ethnische Konflikte gibt und die Antwort auf das „Woher“ Leben oder Tod bedeuten kann. Ein noch gar nicht so weit zurückliegendes Beispiel dafür ist der Konflikt nach dem Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates Jugoslawien, der in die Balkankriege der 90er Jahre mündete und bis heute nicht befriedet ist.

Herkunft und die Unmöglichkeit ihr zu entgehen, ist das Thema des gleichnamigen neuen Buches von Saša Stanišić. Es ist keine theoretische Auseinandersetzung, eher ein autobiografischer Roman, was nicht bedeutet, dass alles, was man liest, sich so zugetragen hat.

Was bedeutet Herkunft, wenn man aus einem Land kommt, das es nicht mehr gibt? Wenn die Mutter Bosniakin ist, der Vater Serbe und die Eltern mit dem Jungen zu Beginn des Bosnienkrieges – er war damals 14 Jahre alt und sprach kein Wort Deutsch – nach Deutschland fliehen und in Heidelberg landen? Dort wohnt die Familie im Emmertsgrund –einem Stadtteil, in dem überwiegend Migranten leben. Die Eltern, beide Akademiker, finden keine Arbeit, die ihrem Ausbildungsniveau entspricht, Chancen auf einen Aufstieg gibt es nicht. Im Alltag erlebt die Familie die hierzulande üblichen Abwertungen und Demütigungen, deren Schilderungen dem Leser, grade weil der Autor sie locker und witzig erzählt, die Schamröte ins Gesicht treiben können.

Als klar wird, dass die Eltern nicht in Deutschland bleiben dürfen, wandern sie weiter in die USA aus. Der Sohn bleibt, er ist längst in Deutschland angekommen Das heißt gleichermaßen am Neckar wie in der deutschen Literatur – in einer Welt, die es ihm zwar nicht leicht macht, deren Chancen er aber sofort ergreift, wenn sie sich ihm bieten, und in die er sich mit all seiner Energie hineinarbeitet.

Zwei Orte gibt es, an denen das „Woher“ eine untergeordnete Rolle spielt und die ihn langsam heimisch werden lassen: die ARAL-Tankstelle im Emmertsgrund, Treffpunkt der Jugendlichen des Viertels. „Heidelbergs innere Schweiz: neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war.“ Und die IGH, die Internationale Gesamtschule Heidelberg. Hier beginnt er in der Förderklasse Deutsch zu lernen und wird später durch seinen Deutschlehrer ermuntert, seine zaghaften, auf Serbokroatisch verfassten, literarischen Schreibversuche auf Deutsch fortzusetzen – eine Erfolgsgeschichte, wie man weiß, wurde doch sein erster Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert in 31 Sprachen übersetzt.

Aber wo er auch ist, die Frage nach der Herkunft begleitet ihn. „Wo kommst Du her, Junge?“, fragt ihn ein alter Verwandter, als er 1990 mit der Großmutter nach Oskoruša kommt, dem Ort, aus dem die Familie väterlicherseits stammt. Hier prallen nicht nur Stadt und Land aufeinander, sondern auch modernes und fast noch archaisches Leben. Auf dem dörflichen Friedhof, über den der Verwandte den Autor führt, steht auf fast allen Grabsteinen nur ein Nachname: Stanišić. „Zugehörigkeitskitsch“ findet der Autor und ist doch auf eine ihm fast unangenehme Weise angerührt. Die Episode dieser Reise lässt den Leser ahnen, was für den Einzelnen mit dem Zerbrechen Jugoslawiens nicht nur gewonnen wurde, sondern auch verloren gegangen sein kann.

Saša Stanišić schöpft alle Mittel seiner fulminanten Schreibkunst aus. In knapp hingetupften Szenen, schnodderig, lakonisch und in trügerischer Weise komisch charakterisiert er den gedankenlosen bis hartherzigen alltäglichen Umgang mit „Fremden“ hierzulande. Zart poetisch und fantastisch schildert er das langsame Entgleiten seiner geliebten Großmutter in die Demenz. Eine kurze Situation genügt ihm, um einen komplexen Sachverhalt plastisch erfahrbar zu machen.

Der Roman verbindet Erlebtes mit Erfundenem, er erinnert an die vergessenen emotionalen Kosten des Zerfalls Jugoslawiens, er reflektiert, was Erinnerung ist, was Wünsche und was Mythen. Herkunft ist ein rasanter Roman, komisch, wütend, traurig und zutiefst human in seiner Ablehnung jeder Festlegung eines Menschen auf eine Nationalität oder Abstammung. In Zeiten, in der Ab- und Ausgrenzung zunehmen, wo der Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit zu oft auch den nach ethnischer „Reinheit“ bedeutet, sind diesem Buch, das den Deutschen Buchpreis 2019 gewonnen hat, noch viel mehr Leser zu wünschen, als es glücklicherweise bereits hat.

Ruth Roebke, Bochum