Zum Buch:
Wenn Frauen sich heute entscheiden, keine Kinder bekommen und sich beruflich verwirklichen zu wollen, löst das zwar noch manchmal die Frage nach einem „warum“ aus, in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hingegen landete frau dafür schon mal in einer geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Die gesellschaftlichen Erwartungen waren und sind an Frauen und Männer wohl schon immer unterschiedlich. Olga Rehfeld, eine der ProtagonistInnen des Romans, wird für ihren mangelnden Kinderwunsch, also die Nichterfüllung dieser Erwartungen, sogar von ihrem eigenen Ehemann eingewiesen. Dieser Ehemann, Hargen Fellner, ist der Anstaltsleiter in den 1920ern und verdammt seine unbelehrbare Gattin durch die Gabe unterschiedlicher Medikamente zum Schattendasein einer willenlosen Patientin hinter hohen Mauern. Olga Rehfeld wird diese Mauern ihr Leben lang nicht mehr verlassen. Die Nebenwirkungen der Medikamente haben ihr Nervensystem schwer geschädigt, so dass sie nicht mehr in die „normale“ Welt da draußen passt.
Im Rahmen des sogenannten „Euthanasieprogramms“ der Nazis wird die Klinik in den 1940ern auch Schauplatz einer verstörenden Triage zwischen Klinikinsassen, die noch, weil arbeitsfähig, „von Wert“ für das Haus sind und solchen, die zum Bahnhof gebracht werden, in dem die Züge Richtung Konzentrationslager abfahren. Jahrzehnte später wird sich eine junge Frau über ein Foto dieser „Abreise“ beugen und versuchen, die Geschichte der Menschen aus deren Gesichtern zu lesen.
Laura Schmidt, eine weitere Protagonistin, taucht an den unterschiedlichsten Stellen des Romans immer wieder auf, erst selbst als Patientin in der Psychiatrie, dann als immer tiefer in die Klinikgeschichte eintauchende Künstlerin, die anhand von Archiven und dem Tagebuch von Olga Rehfeld Geschichte und Geschichten zu rekonstruieren versucht und dabei so vollständig in die Leben Anderer eintaucht, dass diese ihr eigenes Leben immer umfassender durchdringen und die Gegenwart verdrängen. „Wer in dieser auseinanderdriftenden Welt wirklich reibungslos funktionierte, hatte keinen Verstand. Wem es gut ging, der hatte kein Herz!“ denkt Laura an einer Stelle des Romans. Das ist möglicherweise eine Erklärung dafür, warum sich gerade auffallend viele Neuerscheinungen mit dem menschlichen Geist und seinem nicht mehr Funktionieern, mit der Geschichte von Wahnsinn und Psychiatrie beschäftigen, allen voran Thomas Melle, aber auch Anna Prizkau, Leon Engler und einige andere.
Svealena Kutschke hat einen großartigen, berührenden und hochkomplexen Roman über eben diesen gesellschaftlichen Normierungsversuch von Wahnsinn und Normalität geschrieben, aber auch über Queerness, als man sie noch nicht so nannte, transgenerationale Traumata, Pflegenotstand und Menschlichkeit.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt