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Autor
Shattuck, Ben

Die Geschichte des Klangs

Untertitel
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Beschreibung

Die Geschichte des Klangs besteht aus zwei Erzählungen, die thematisch eng verbunden sind. In Teil eins blickt der Musikforscher Lionel im Alter auf eine kurze Episode in seinem Leben zurück, als er zusammen mit David durch die Wälder in Maine wanderte und die Folksongs, die dort gesungen wurden, aufzeichnete. Teil zwei handelt von Annie, einer Frau in mittleren Jahren, die frustriert in einer lauwarmen Ehe steckt. Beide Erzählungen sind miteinander verbunden, und in beiden taucht die zentrale Frage auf, wie das Leben von Lionel und Annie verlaufen wäre, wenn sie an EINEM Punkt eine andere Entscheidung getroffen hätten. Das Buch ist mit 102 Seiten nicht sehr umfangreich, dafür aber ungeheuer gehaltvoll. Dicht erzählt, geschrieben in einer wunderbaren Sprache, klingt es auch nach Ende der Lektüre noch lange nach.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Verlag, 2025
Format
Gebunden
Seiten
104 Seiten
ISBN/EAN
978-3-446-28424-1
Preis
20,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Ben Shattuck wurde mit dem PEN America Short Story Prize und dem Pushcart Prize 2019 ausgezeichnet. Shattucks erstes Buch, »Six Walks: In the Footsteps of Henry David Thoreau« (Tin House, 2022) war ein Best Book of 2022 des New Yorker. Er lebt mit seiner Frau und seiner Tochter an der Küste von Massachusetts, wo er den ältesten Gemischtwarenladen Amerikas aus dem Jahr 1793 betreibt. Außerdem ist er der Gründer und Leiter der Cuttyhunk Island Writers’ Residency.

Zum Buch:

Die Geschichte des Klangs besteht aus zwei Erzählungen, die thematisch eng verbunden sind.

Die erste Geschichte beginnt im Jahr 1985. Erzähler ist der fünfundachtzigjährige Lionel Worthing. Er hat sich nach Ende seiner Sängerkarriere vor Jahren der Erforschung der amerikanischen Folkmusik zugewandt und mehrere Bücher dazu veröffentlicht. Nach einem TV-Interview zum Erscheinen seines neuesten Buches hat ihm ein anonymer Absender ein Paket mit Wachswalzen zugeschickt und ihn damit in seine Vergangenheit zurück katapultiert. Um sein inneres Gleichgewicht zurückzuerhalten, beschließt er seine Erinnerungen aufzuschreiben.

Lionel, der Erzähler, stammt aus Kentucky, vom Land. Er hat das absolute Gehör, er sieht die Farben der Töne und schmeckt ihren Klang. 1917 erhält er ein Stipendium für das New England Conservatory of Music in Boston, um Komposition und Gesang zu studieren. In einer Musikkneipe lernt er David kennen, der dort Klavier spielt. Für ein paar Wochen, die David in Boston ist, treffen sie sich einmal in der Woche in der Kneipe und musizieren zusammen. Danach gehen sie in Davids Zimmer und lieben sich. 1917, als Amerika in den Ersten Weltkrieg eintritt, wird David eingezogen, Lionel ist wegen seiner schlechten Augen nicht kriegstauglich. Er geht zurück nach Kentucky und entdeckt erst in den anschließenden leeren Monaten, dass er David liebt.

Im Sommer 1919 erhält er eine Nachricht von David, der ihn einlädt, mit ihm im August und September durch die Wälder von Maine zu ziehen und mit einem tragbaren Phonographen Folksongs aufzuzeichnen und zu sammeln, die dort gesungen werden. Sie wandern hunderte von Kilometern durch das Land, schlafen im Zelt oder im Freien, lieben sich unterm Sternenhimmel und nehmen Balladen und Melodien auf. Lionels Glück ist vollkommen, aber David hat sich verändert. Er scheint traumatisiert, seine Hände zittern und er zieht sich immer mehr zurück. Als die Zeit vorbei ist, trennen sich erneut ihre Wege. Als Lionel versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, erfährt er, dass David kurz nach seiner Rückkehr aus Maine gestorben ist …

Die zweite beginnt mit Annie. Sie ist Mitte dreißig. Mit ihrem Mann Henry ist sie seit zehn Jahren verheiratet. Davor war sie eine vielversprechende Studentin der Kommunikationswissenschaft. Mit Henry hatte sie bei einem Forschungsaufenthalt eine kurze, unverbindliche Affaire. Drei Jahre später trifft sie ihn auf „schicksalhafte Weise“ – wie sie und alle ihre Freunde meinen – in New York wieder und sie werden ein Paar. Annie gibt ihr Studium auf und folgt ihm nach Ithaka, wo er an der Universität arbeitet.

Nun, 1983, sitzt Annie alleine – Henry arbeitet – abends vor dem Fernseher und sieht ein Interview mit dem alten Musikforscher Lionel Worthing zu dessen neuem Buch. Ihr wird deutlich bewusst, wie öde und inhaltsleer ihr Leben ist. Was hat sie? Einen Mann mit einer interessanten Arbeit, einen ungeliebten Teilzeitjob, die Hausarbeit. Als sie frustriert das alte Haus ausräumt, das sie günstig gekauft haben, und im Arbeitszimmer den Teppich aufrollt, findet sie in einem Versteck unter den Dielen eine Kiste mit Rollen, deren Funktion ihr völlig unbekannt ist, von denen sie aber ahnt, dass sie für die vormalige Besitzerin eine Bedeutung gehabt haben müssen. Sie beschließt, sie ausfindig zu machen, um mehr zu erfahren. Dies ist für Annie das erste Mal seit ihrer Heirat mit Henry, dass sie einem eigenen Interesse folgt …

Die Geschichte des Klangs ist mit gerade einmal 102 locker bedruckten Seiten ein sehr schmales Buch. Es ist schnell gelesen, dafür aber ungeheuer gehaltvoll. Folgt man den Andeutungen, die den Text durchziehen, den Stimmungen und Bildern, entfaltet sich die Frage, die hinter beiden Erzählungen steckt: Wie wären Lionels und Annies Leben verlaufen, wenn sie sich an einem Punkt anders entschieden hätten? Wäre es das „richtige“, ein glücklicheres Leben geworden, wenn Lionel David nicht hätte gehen lassen und Annie Henry nicht geheiratet hätte?

Das Buch hat keine Gattungsbezeichnung. Es besteht aus zwei Teilen oder zwei Erzählungen, die eine thematische Verbindung haben. Die amerikanische Vorlage mit dem Titel The History of Sound enthält zwölf Short Stories, von denen jeweils zwei inhaltlich zusammenhängen. Der Hanser Verlag hat leider nur die ersten beiden, die titelgebende und die dazu gehörende Erzählung veröffentlicht – wahrscheinlich, weil im Frühjahr 2026 eine Verfilmung der ersten Story in Deutschland herauskommt. Schade! Aber vielleicht kommt der Rest ja im nächsten Programm.

Barbara Determann, Ruth Roebke, Frankfurt