Zum Buch:
Nordlich in Westfalen. Ein typisches Provinzstädtchen, ländlich geprägt, ein wenig Industrie, die Eisenbahn. Hier kreuzen sich zwischen 1916 und 1963 die Wege dreier Familien: der Kleinbauernfamilie Vösken, der Familie des Eisenbahners Julius Stein und der aus Litauen geflüchtete Familie Srszprn. Ihre Kinder gehen zusammen in die Schule, Ehen werden geschlossen, man schlägt sich so durch. Und man würde sich besser durchschlagen, wenn nicht die große Welt mit ihren Kriegen und Krisen immer wieder in den ländlichen, katholischen Alltag eindringen würde. Väter und Söhne ziehen in den Krieg, mal mehr, mal weniger begeistert, machen schreckliche und schöne Erfahrungen, geraten in Gefangenschaft, kommen zurück. Sehen andere Länder, verlieben sich, heiraten. Die Frauen halten den Alltag aufrecht, finden den richtigen – oder den sehr falschen – Mann und bekommen Kinder. Alles ganz normal, schrecklich oder schön.
“Nordlich” wäre ein deutscher Familienroman aus der Provinz, wie es viele gibt, wäre da nicht die Art, wie Willi Zurbrüggen ihn erzählt. Hier hat jemand mit viel Begeisterung und Liebe ein furioses Buch geschrieben, in das man sich zunächst hineinfinden muss, in all die Vor- und Rückblenden, Abschweifungen und verschiedenen Welten. Zurbrüggen hat seinen beachtlichen sprachlichen Werkzeugkasten geöffnet und zeigt mit souveräner Raffinesse, was sich damit alles machen lässt. Diese Kunstfertigkeit macht die Lektüre zum reinen Vergnügen, und auch da, wo der Fluss der Erzählung verlassen wird und hier noch eine Einzelheit und da noch ein historischer Rückblick eingebaut ist, mäandert man gerne mit. Am Ende hat man das Gefühl, nicht nur in der westfälischen, sondern in einer sprachlichen Landschaft zu Besuch gewesen zu sein, von der man noch lange träumen wird.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main