Zum Buch:
Die Frage, was Deutsche wissen konnten über die Verbrechen des Nazi-Regimes, beschäftigte lange Zeit die Forschung. Mittlerweile ist klar: Jeder aufmerksame Zeitgenosse konnte fast alles wissen. Einen schlüssigen Beleg dafür bilden die eben veröffentlichten Tagebücher des Gerichtsbeamten Friedrich Kellner (1885-1970). Der Sozialdemokrat Kellner war von Anfang ein Gegner des Regimes, durfte öffentlich nichts mehr sagen, aber behielt die Ohren offen und las aufmerksam Zeitungen. Am 10. Juni 1941 schrieb er in sein Tagebuch: „In letzter Zeit mehren sich die Anzeigen über Todesfälle in der Heil- und Pflegeanstalt in Hadamar. Es hat den Anschein, dass unheilbare Pflegebefohlene in diese Anstalt gebracht werden. Auch soll eine Anlage zur Einäscherung eingebaut worden sein.“ Sieben Wochen später hatte er Gewissheit und notierte: „Die Heil-und Pflegeanstalten sind zu Mordzentralen geworden.“ Den Mördern war ein Versehen passiert. Ein nach Hause entlassenes Kind wurde nicht von der Liste der Todeskandidaten gestrichen und die Eltern erhielten eine Todesanzeige, obwohl das Kind bei ihnen lebte. Von den Massenerschießungen von Polen und Juden durch die Wehrmacht und die Einsatzgruppen erfuhr Kellner schon im Herbst 1941 von einen Soldaten im Urlaub und schrieb am 14.12. 1941 in sein Tagebuch: „Diese Schandtaten werden niemals wieder ausgelöscht werden können.“
Friedrich Kellner stammte aus bescheidenen Verhältnissen und wuchs in Mainz auf. Nach dem Oberrealschulabschluss wurde er Büroangestellter beim Mainzer Amtsgericht, schließlich Justizsekretär und Justizinspektor. 1933 ließ er sich von Mainz in die hessische Provinzstadt Laubach versetzen. Seinem Sohn Fritz, der sich Fred nannte, wollte Kellner ein Leben unter der Diktatur und den erwarteten Kriegseinsatz ersparen. Fritz Kellner jun. emigrierte 1935 in die USA und heiratete dort.
Kellner sah schon bald nach der Übergabe der Macht an Hitler, was sich anbahnte. In seinem Tagebuch dokumentierte er akribisch den Alltag unter der Diktatur. Bis zum Kriegsende füllte er 10 Hefte mit 900 Seiten mit Zeitungsausschnitten und Kommentaren, Beobachtungen und Notizen zum Alltagsleben. Besonders aufmerksam verfolgte und kritisierte Kellner in seinem Tagebuch Goebbels‘ Propagandamaschinerie. Schon am 26.9.1938 hielt er fest: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne!“ Drei Wochen nach Kriegsbeginn, vom Bündnis Hitlers mit Stalin nicht geblendet, schrieb er: „Krieg mit Russland wird kommen“. Und den Putsch vom 20. Juli 1944 kommentierte er nüchtern: „Eine Revolution, nur von Offizieren (ohne Volk) geführt, ist eine Totgeburt“.
Nach dem Krieg beteiligte sich Kellner maßgeblich am Wiederaufbau der SPD im Vogelsbergkreis, wurde Parteivorsitzender in Laubach, kommunaler Beigeordneter und schließlich Stadtrat. Von 1948 bis zu seiner Pensionierung 1950 war er Bezirksrevisor beim Landgericht in Gießen. Sein Tagebuch blieb liegen. Die Zustände in der Adenauer-Republik deprimierten ihn.
1960 bekam Kellner Besuch aus Amerika von seinem Enkel Robert Martin Scott Kellner, dem er 1968 seine Tagebücher vermachte. Kellner starb am 4. November 1970 in Mainz, ohne dass jemand außer dem Enkel die Tagbücher kannte. Der Rest der Geschichte hört sich abenteuerlich an, ist jedoch verbürgt.
Der Enkel übersetzte Teile der Tagebücher und präsentierte sie im Frühjahr 2005 in der Library von George Bush sen. in Station/Texas. Ein kanadisches Fernsehteam drehte 2006 aufgrund dieser Ausstellung und einem Interview mit dem Enkel einen Dokumentarfilm über Friedrich Kellner. Weil der „Spiegel“ im Mai 2005 über die Ausstellung in Texas berichtete, erfuhr die Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig Universität Gießen von den Tagebüchern und plante deren vollständige und kompetent kommentierte Publikation, die jetzt im Wallstein-Verlag erschienen ist.
Kellner selbst erfasste die Bedeutung seiner Tagebücher am besten, als er schon am 10. November 1940 notierte: „Die Geschichte wird den Beweis erbringen, ob die derzeitigen (…) Machthaber oder ich, der kleine Mann im Vogelsberg, die weltpolitischen Möglichkeiten besser durchschaut haben.“ Durchschaut hat Kellner nicht nur Goebbels‘ Propaganda („Hirnverschleimung“), sondern vor allem viele seiner Mitbürger: „Ein Teil des deutschen Volkes (hat) überhaupt jegliches Empfinden für Recht und Gerechtigkeit verloren“.
Rudolf Walther, Frankfurt am Main