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Autor
Mantel, Hilary

Jeder Tag ist Muttertag

Untertitel
Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Beschreibung

Der Titel klingt verführerisch für jedes gestresste Mutterherz und für jeden die Besitzerin desselben beglücken wollenden Ehemann. Wer wünscht sich nicht, dass jeder Tag Muttertag sei, der Tisch von allein gedeckt, die Spülmaschine ausgeräumt, das Essen zubereitet. Aber Hillary Mantel, bekannt als Autorin anspruchsvoller historischer Romane, schenkt uns mit diesem vor 30 Jahren in England erschienenen Debüt keine Familienidylle und auch keinen Roman, der den Leser über das eigene Leben schmunzeln lässt. Wer lachen will, dem bleibt das Lachen im Halse stecken.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
DuMont Buchverlag, 2016
Format
Gebunden
Seiten
256 Seiten
ISBN/EAN
978-3-8321-9823-7
Preis
22,99 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Hilary Mantel, geboren 1952 in Glossop, England, war nach dem Jura-Studium in London als Sozialarbeiterin tätig. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 den Booker erneut.

Zum Buch:

Der Titel klingt verführerisch für jedes gestresste Mutterherz und für jeden die Besitzerin desselben beglücken wollenden Ehemann. Wer wünscht sich nicht, dass jeder Tag Muttertag sei, der Tisch von allein gedeckt, die Spülmaschine ausgeräumt, das Essen zubereitet. Aber Hillary Mantel, bekannt als Autorin anspruchsvoller historischer Romane, schenkt uns mit diesem vor 30 Jahren in England erschienenen Debüt keine Familienidylle und auch keinen Roman, der den Leser über das eigene Leben schmunzeln lässt. Wer lachen will, dem bleibt das Lachen im Halse stecken.

Hillary Mantels Studie zweier Familien ist bitterböse und verstörend – hier die alleinerziehende geistersehende Mutter mit ihrer zurückgebliebenen erwachsenen Tochter (Evelyn und Muriel Axon), dort das Paar mit drei Kindern, das nebeneinander herlebt und sich anderweitig vergnügt (Colin und Silvia Sydney). Bittere Ironie: In beiden Häusern wird ein neuer Erdenbürger erwartet, die behinderte Tochter wie die betrogene Ehefrau sind schwanger. Diese Babys sind nicht Ausdruck des Lebensglücks, sie sind der gnadenlose Beweis der Vitalität des Lebens selbst, das sich ohne Rücksicht auf Verluste fortpflanzt.

Es ist dieses Ausgeliefertsein des Menschen, die Macht der Natur über die Kreatur, die Hillary Mantel unglaublich präzise und mit Sympathie für alle Charaktere ausbuchstabiert. Ohne zu übertreiben oder zu kaschieren. Das drückt sich auch darin aus, dass die Mitarbeiter des Sozialamts, die einigermaßen regelmäßig bei Evelyn und Muriel Axon nach dem Rechten sehen, auf diese Kleinfamilie keinerlei Zugriff haben. Sie können nicht helfen, selbst wenn sie willkommen wären. Der Sog des Schicksals reißt auch sie mit sich mit. Sie können nur dokumentieren.

Und so sind dieDokumente und Akten auch das einzige einigermaßen Sichere, auf das die Sozialarbeiter bauen können. Dass just eine solche Akte verschwindet – und zur Grundlage eines Romans werden soll, ganz nach dem Motto, dass das Leben immer noch die besten Geschichten schreibt –, mag nahe legen, dass Hillary Mantel auch ihr eigenes Schreiben thematisiert. Zumindest als Dokumentarin historischer Stoffe musste sie notwendigerweise die Fakten vergangener Ereignisse und das Schicksal ihrer Protagonisten akzeptieren. Dass sie aber auch die Gegenwart als nicht formbar und als nicht beeinflussbar schildert, macht die Menschen zu hilflos in den Netzen der Schicksalsgöttinnen zappelnden Geschöpfen. Das Sozialamt ist ein sich um sich selbst drehender Beamtenapparat, dessen Mitarbeiter das Leben vielleicht dokumentieren, aber nicht verändern können. Hillary Mantel war nach ihrem Jura-Studium übrigens selbst als Sozialarbeiterin tätig.

Mit Jeder Tag ist Muttertag schreibt sich Mantel zugleich in die englische Tradition der gothic novel ein und stattet das Haus der Axons mit den Eigenschaften des Schauerromans aus – oh, und das Haus wird am Ende neu bezogen. Diese Tradition erspart es dem Leser aber nicht, sich über sein eigenes Schicksal und die Machtverhältnisse im eigenen Hause Rechenschaft abzulegen.

Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt