Zum Buch:
Als am 10. Mai 1933 Kurt Tucholskys Bücher auf dem Opernplatz seiner Heimatstadt in Flammen aufgingen, hatte, wie Erich Kästner 1946 schrieb, „der kleine dicke Berliner, der mit der Schreibmaschine gegen die Katastrophe ankämpfte“, seinen Kampf verloren. Und Rolf Hosfeld, wissenschaftlicher Leiter des Lepsiushauses Potsdam, hat ihm in seiner im Siedler Verlag erschienenen Biographie ein gleichermaßen facettenreiches und anrührendes literarisches Denkmal gesetzt.
Das erste Kapitel des Buches führt ins Ruppiner Land nach Schloss Rheinsberg, den Ort, den Tucholsky nach einem Wochenendausflug mit seiner Geliebten Else Weil 1912 zum Schauplatz einer unbeschwerten, sonnendurchfluteten Liebesgeschichte machte. Rheinsberg , so Hosfeld, war ein Buch der Jugend, so etwas wie die Leiden des jungen Werther für eine Generation, die zwei Jahre später in den Materialschlachten des Weltkriegs untergehen sollte. Der heitere Eros, der Rheinsberg durchweht, ist bereits von Vorahnungen getrübt, die die träumend im Gras der Remusinsel liegenden Liebenden zur Sprache bringen: “Sehssu, mein Affgen, das is nu deine Heimat. Sag mal: würdest du für dieselbe in den Tod gehen?“, fragt Claire unvermittelt, und erhält die Antwort: “Du hast es schriftlich, liebes Weib, dass ich nur für Dich in den Tod gehe. Verwirre die Begriffe nicht.“ In diesem beiläufigen Dialog formulierte Tucholsky bereits sein zentrales Lebensthema. Der Krieg, der sich in dem fiebrigen Erregungszustand der europäischen Gesellschaften vorbereitete, war für ihn, den polyglotten Gentleman und radikalen Citoyen, ein seine Lebensweise bedrohender Rücksturz in vorzivilisatorische Verhaltensweisen.
Wenn Hosfeld mit großer Umsicht und Einfühlung die Stationen dieses intensiven und kurzen Lebens abgeht, wird vor allem deutlich, dass sich das Repertoire des scheinbar unbekümmerten Vielschreibers nicht in der gern zitierten „Berliner Schnauze mit Herz“ erschöpfte. Tucholsky war ein hellsichtiger politischer Diagnostiker, der bereits in der Frühphase der Weimarer Republik in den antisemitischen Freicorpsangehörigen den Typus des über Leichen gehenden soldatischen Mannes ausmachte: „Rächer aus verlorener Bodenhaftung. Nicht roh oder grausam, sondern etwas viel Schlimmeres: amoralisch.“ Ende 1929 skizzierte er in einem Brief ein Schreckensszenario, dem die Geschichte folgen wird. Es „sei wahrscheinlich, dass unter dem Stoß der von der Regierung gänzlich ungehinderten Hitlergarden“ plötzlich eine „neue Ära“ ausbrechen werde. Selbst die gemäßigten Sozialdemokraten würden ihre Ämter verlieren, und nach dem Tod Hindenburgs käme es zu einer Verfassungsänderung. Deutschland werde mit Italien zusammengehen, um freie Hand für eine Revanche gegen Frankreich zu haben: „Sie wollen den Krieg. Mehr: sie wollen die Auslöschung Frankreichs und die Unterjochung Mitteleuropas.“ Der lebensmüde Kurt Tucholsky stirbt zwei Jahre nach der prognostizierten Machtergreifung der Nationalsozialisten im schwedischen Exil, seine greise Mutter Doris wird 1942 mit dem 23. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert und Anfang Mai 1943 ermordet.
Rolf Hosfelds glänzend geschriebene Biographie trägt gewiss dazu bei, dass Kurt Tucholsky auch in Zukunft geliebt und gelesen wird.
Günter Franzen, Frankfurt am Main