Detail

Drucken

Die Lebenden reparieren

Autor
Kerangal, Maylis de

Die Lebenden reparieren

Untertitel
Roman. Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Beschreibung

Manchmal nimmt man ein Buch nach seinem Erscheinen nicht wahr, das einen zufällig Jahre später völlig begeistert. So ein Buch ist für mich Die Lebenden reparieren der französischen Autorin Maylis de Kerangal. 2015 ist es erstmals auf Deutsch erschienen. Der Titel ist ein Zitat aus Tschechows Stück Platanow, in dem das Motto des Landarztes lautet: „Die Toten begraben, die Lebenden reparieren“. Es ist ein außergewöhnlicher Roman über das Thema Organspende, das den Gegenstand weder reißerisch noch moralisch ausbeutet, sondern ihn mit fachlichem Wissen und großer Empathie für alle Personen umkreist, die mit diesem Prozess zu tun haben. Ein vielschichtiger Text von großer sprachlicher Schönheit, das wärmstens zu empfehlen ist.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2026
Seiten
254
Format
Taschenbuch
ISBN/EAN
978-3-518-46688-9
Preis
13,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Maylis de Kerangal, geboren 1967 in Toulon, zählt zu den einflussreichsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Sie hat zahlreiche Romane, Essays und Erzählungsbände veröffentlicht. Für ihren 2010 erschienenen Roman Die Brücke von Coca wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, Die Lebenden reparieren gewann zahlreiche Preise und wurde 2016 verfilmt. Kerangal lebt mit ihrer Familie in Paris.

Zum Buch:

Drei junge Männer aus Le Havre sind in einer Winternacht ans Meer gefahren, um in der Morgendämmerung zu surfen. Einer von ihnen ist Simon Limbres, 19 Jahre alt. Auf der Rückfahrt verunglückt das Auto auf der glatten Straße, Simon, der nicht angeschnallt zwischen den anderen beiden saß, prallt an die Scheibe. Im Krankenhaus werden bei Simon starke Blutungen im Kopf und der Hirntod festgestellt – nur durch die Maschinen, an die er angeschlossen ist, wird er „am Leben“ erhalten. Aus medizinischer Sicht ist Simon – jung, kräftig und bis auf die Kopfverletzung gesund – der ideale Spender für Organe, auf die todkranke Menschen warten.

Die gesamte Handlung des Romans spielt sich innerhalb von 24 Stunden ab. Sie ist eine präzise Beschreibung des vollständigen Ablaufs einer Organtransplantation in all ihren Aspekten: der schwierigen Entscheidungsfindung für die Eltern und, parallel und für diese nicht einsehbar, die Vorbereitungen für eine reibungslose Organentnahme und deren Transport zu den jeweiligen Spendern. Denn wenn eine Zustimmung erteilt wurde, darf keine Zeit mehr verschwendet werden.

Neben den genauen Beschreibungen des medizinischen Ablaufs werden in kurzen Szenen Geschichten über alle erzählt, die in diesen Prozess involviert sind: die Eltern, die Freundin, Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, Organisatoren – und die Kranke, die auf ein gesundes Herz wartet, um für sich und ihre Kinder weiterleben zu können.

Die Lebenden reparieren ist ein faszinierender Text, der widersprüchliche Empfindungen weckt. Einerseits befremdet die professionellr Nüchternheit des gesamten klinischen Personals ein wenig, aber es stellt sich auch Hochachtung ein für die reibungslos verlaufende Professionalität, mit der die Schritte der Organentnahme und Verteilung abgewickelt werden. Gleichzeitig berühren die Versuche aller Beteiligen, die Gefühle der Eltern zu achten und in dem eng getakteten Ablauf die kurzen Augenblicke zu nutzen, die Mitleid und Menschlichkeit zulassen. Die Autorin versucht, dem gesamten Kosmos der Gedanken und Gefühle jeder der handelnden Personen nachzuspüren, und gibt den Lesenden damit die Möglichkeit, eine eigene Haltung zu diesem schwierigen Thema zu entwickeln. Die Lebenden reparieren ist ein vielschichtiger Text von großer sprachlicher Schönheit, der wärmstens zu empfehlen ist.

Ruth Roebke, Frankfurt a. M.